Heringsdorf ist das Trouville des Baltischen Meeres. Schritt für Schritt hat sich das kleine Fischerdorf zu einem Stelldichein der Welt, die zu leben weiß, entwickelt. Es gibt gemüthlichere Sommerfrischen an der Ostseeküste, auch billigere, aber sicher nicht elegantere. In Misdroy und Dievenow, in Kolberg und Kranz gruppirt sich die Badegesellschaft nach mehr oder minder deutlich erkennbaren Steuerstufen. Neben dem verwöhnten Curhotelgast, der mit einer Anzahl von Rohrplattenkoffern reist, ist da der bescheiden, fast dürftig hergerichtete Wanderhaushalt der köpfereichen berliner Familie, die zu dritt, zu viert, wenn nicht gar zu fünft und zu sechst sich an einem einzigen engen Schlafraum genügen lassen muß, keine Seltenheit. In noch kleineren Ostseebädern erreicht die äußere Lebensführung eines Theils der Sommergäste ja noch nicht einmal die anspruchslose Behäbigkeit einer Fischerwirthschaft.
Die sommerliche Ungenirtheit des Strandlebens in Hemdsärmeln, die patriarchalische Sechswochenfreundschaft mit biederen Eingeborenen, das tägliche Flunderngericht der sparenden Kleinbürgersfrau, alles das rührt an Zeiten, die für Heringsdorf längst vergangen sind. Hier scheint der größte Theil der Badegesellschaft den höheren Steuerklassen anzugehören. Manchmal trügt ja auch der Schein. Immerhin darf derjenige, der auf die Reise sparen muß, seine Schritte nicht nach Heringsdorf lenken. Die Lustfahrten auf den Segeljachten, die abendlichen Grogs und Schlummerpünsche, die Vorstecksträußchen für irgendeinen schlanken Gürtel, der Sherry nach dem Bade, die Droschken, die Ruderboote, die unzähligen Kellner in den Wiener Cafés, alles das ergibt tagtäglich ohne besondere Anstrengung ein ganz erkleckliches Nebenconto. Die Gelegenheiten, Geld auszugeben, sind in Heringsdorf nun einmal so raffinirt bequem und verlockend. Heute ein Extraconcert in dem oder jenem großstädtischen Etablissement, morgen ein Strandfeuerwerk, übermorgen ein Kinderfest oder ein Corso, Wettspiele, Regatten, Bazare, Theater; es ist wie eine Fortsetzung der großen berliner Gesellschaftssaison. Sogar das Bad im Meere hat durch die neuerdings eingeführte Mischung der Geschlechter den Charme einer geselligen Unterhaltung angenommen.
Am üppigsten fällt der Goldregen am Sonntag über das so blitzsauber zwischen den dunkeln Dünenwäldern eingebettete Schmuckkästchen. Da haben die berliner Extrazüge einige hundert sehnsüchtige Ehemänner, liebeentbrannte Bräutigame und Brautschau haltende Verliebte nach Heringsdorf gebracht, die nun in den paar Ferienstunden, losgelöst von Bureau, Börse und Amtszimmer, eine Art Hausse in Confect, Blumen und Lustfahrten heraufbeschwören. Um die weithinaus ins Meer gebaute, durch einen Wellenbrecher geschützte Kaiser-Wilhelm-Brücke entfaltet sich dann das bunteste Leben. Schmucke Segelboote kreuzen draußen auf der Rhede. Kehren sie heim, so tragen kräftige Schifferarme die eleganten Frauengestalten zum trockenen Dünensand, Flaneurs stellen Strandschustudien an, flugs bildet sich eine Lästerallee, im Restaurant auf der Laufbrücke gibt man nautische Gutachten ab, die Damen kritisieren die Toiletten. Denn an Costümpracht, ja an verblüffendem Luxus ist seit einigen Jahren in Heringsdorf fast ebenso viel zu bewundern wie in Trouville. Sogar die halbwüchsigen Backfische tänzeln, in seidenen Strümpfen und weißen Atlasschuhen steckend, in einem Froufrou spitzenbesetzter Röckchen zu den Tennisplätzen. Es ist an sonnigen Sommertagen ein Klein-Paris am Meere: verwöhnte Menschen, fürstlich gedeckte Tafeln, herausfordernde Farben und bizzare Moden, Blumen, viel Blumen, und vom Strandcasino her schmeicheln die prickelnden Rhythmen eines Bizet, eines Strauß, eines Audran ans Ohr.
Von früh bis spät ist es amüsant in Heringsdorf. Aber am schönsten ist es doch, wenn man das schmucke kleine Babel vom Bord einer Jacht aus betrachtet, die mit raumer Schot ins blaue Meer hinaussegelt, während der Gischt am Bug aufspritzt und die langen Wellen, weiß überköpfend, in träumerischen Klängen an den Kiel schlagen. Die pariser Toiletten, die Strandkörbe und die blumenübersäeten Sommerhüte, die nackten, braunen Kinderbeine, die Spitzenschirme und die schwatzenden, flirtenden Strandlöwen in den hellen Anzügen, das alles wirkt schließlich nur noch als ein einziger lustigbunter Farbenklecks in der wunderbaren Harmonie von Wasser, Licht, Dünenwald und Meeresluft. Man hat über sich den fleckenlosen Himmel, in den Segeln rauscht es, die Trossen klirren, majestätisch streicht ein weißer Dampfer vorbei, stolz und ruhig wie ein Schwan, und nun erst erkennt man, daß Heringsdorf auch noch anderes besitzt als Mode- und Badeklatsch, Putz, Tanz, Tennis und fashionable Cafés; das weite, blaue, ewige, feierliche Meer, das überall dasselbe ist, beim weltverlorensten Flunderndorf an der armen Fischerhütte wie jenseit der weitragenden Kaiser-Wilhelm-Brücke von Heringsdorf.
Paul Oskar Höcker
Illustrirte Zeitung Nr. 3087, 28. August 1902, Seite 307
Der Text ist mir zufällig in die Hände gefallen und hat mir ein paar höchst unterhaltsame Minuten beschert. Trouville des Baltischen Meeres. Klein-Paris. Babel. Köstlich. Weiss jemand was ein „Froufrou“ ist?
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