Dieses Ostseebad Heringsdorf wird Berlin immer ähnlicher. Es hat nicht nur seine Theater mit Premieren drin, es hat jetzt auch schon ein ganz richtiges Nachtleben, wie man es sich nicht schöner denken und wünschen kann. American Bars, Danny Gürtler, Kabaretts, Soireen, die echten Wiener Originalschrammeln (genannt: d‘ Praterspatzen), eine Indianerkapelle, Tiroler Sänger, Nachtcafés, alles ist da, daß ein naturfreudiges Gemüt nicht in Verlegenheit zu kommen braucht. Und die ganze Nacht hört auf den Straßen der fröhliche Betrieb nicht auf. Und bei der Table d’hôte sagt der eine: „Wir sind gestern um zwei Uhr nach Hause gekommen“, worauf der andere triumphierend erwidert: „Na, und wir erst um halb vier.“
Kurz: es ist etwas los in Heringsdorf. Es ist Betrieb vorhanden. Oder, um das Ding beim rechten Namen zu nennen: es ist todschick in Heringsdorf.
Nur eine Wasserrutschbahn, wie wir sie im Berliner Lunapark haben, ist merkwürdigerweise vorläufig immer noch zu vermissen. Doch können wir in die Entwicklung Heringsdorfs das unbedingte Vertrauen setzen, daß auch das bald erreicht werden wird. Wer schon bei Danny Gürtler angelangt ist, der ist nicht mehr weit von der Rutschbahn. Es ist nur noch ein Schritt, und dieser Schritt muß und wird gemacht werden.
Ich will gegen ihr Bad nichts Böses sagen, bin vielmehr gesonnen, es unter dem nächsten Stern als die Königin der Ostseebäder zu preisen und sein Lob in jeder Weise zu singen. Aber gesagt darf doch wohl werden, daß ich die Bedingungen dieses seltsamen Erholungsbetriebes nicht verstehe und nicht begreifen kann, wie dieser muntere Lärm hier Großstädtern, die vom Lärm erschöpft sind, förderlich sein kann.
Für unser Wort Erholung haben die romanischen Sprachen die anmutige Bezeichnung recreatio, die Wiederschöpfung. Der Mensch soll von neuem erschaffen werden, soll noch einmal von vorn anfangen, zu der herzhaften Naivität und Kraft der Uranfänge zurückkehren. Demnach erholen sich die Leute am gründlichsten, die in ihrer Ferienzeit sich zu einem Förster oder Bauern in Pflege geben und nun drauflos leben wie die Kinder. Sie melken die Kühe, sie suchen frischgelegte Eier, sie arbeiten auf dem Acker, sie erleben das so tägliche und doch so geheimnisvolle Mirakel des Sonnenaufganges (die Sonne geht nicht nur am Rigi und in Meyerbeers Propheten auf), sie gehen mit den Hühnern ins Bett und lassen sich fromm von nächtlichen Flöhen stechen, wie das unsere Väter auch nicht anders und besser taten. So werden sie wieder Menschen, wie sie einst aus der Hand Gottes herkamen, und können dann in Berlin wieder neu gestärkt mit der Elektrischen fahren, im Bureau sitzen, sich mit den Kollegen zabnken und sonst all den Blödsinn treiben.
Hingegen hier diese Heringsdorfer haben sich den Blödsinn mit ins Bad genommen. Ich war eben im Café des Kurhauses, wir saßen mit sechs Mann um einen Marmortisch herum, drängten uns, schrieen nach den Kellnern, die wütend und erregt mit vollen Brettern daherstürmten, und befehdeten uns um die Zeitungen. Wie bei Josty oder im Café Bauer um vier Uhr nachmittags.
Und unmöglich ist, des Abends einen Kalbsnierenbraten ohne musikalische Begleitung zu genießen. In allen Restaurants und in allen Cafés klimpert‘s und geigt‘s und trompetet‘s italienisch und zigeunerisch und tirolerisch; „Du hast ja keine Ahnung“ und „Wer kann dafür“ und die zauberischen Klänge jener polnischen Wirtschaft. Und gedrängt sitzen wir durcheinander und lärmen und lachen … so daß es fast so aussieht, als ob nach Heringsdorf nur die gesündesten Menschen gehen. Menschen, die das ganze Jahr lang nichts getan haben und sich nun einmal austoben möchten, so von Grund auf.
Gewiß, das gesellschaftliche Bild ist blendend. Auf der Weinterrasse des Kurhauses, wo man im Handumdrehen ein paar Geldstücke loswird, befindet man sich in allerbesten Kreisen, und auf der Promenade wird die wunderleibliche Frauenmode dieser Tage in den heitersten und kapriziösesten Formen spazieren geführt. Und anbetungswürdige Schönheiten sieht man überall.
Aber, zum Henker, auch dieses scheint mir der Gesundheit nicht eben förderlich zu sein. Ich bin hier, um meine leicht entzündlichen Nerven zu besänftigen, nicht um mich an anbetungswürdigen Schönheiten aufzuregen, an einer nach der anderen.
Nachdem all dieses endlich einmal herausgesagt ist, sei das Kompliment gesprochen, daß Heringsdorf keine Ortschaft ist, sondern ein Stück Buchenwald.
Es ist der lieblichste und im Sommer kühlste menschliche Siedelungsort, den ich gesehen habe; für alle Städtebauer ein Muster, wie es gemacht werden soll.
Die Aufgabe, die hier gelöst werden mußte, war die: auf den Hügeln, die ein alter Wald bedeckt, ist ein Weltbadeort zu errichten. Man hätte nun frisch und froh den Wald absäbeln und die Hügel abtragen können, etwa wie die genialen Baumeister der guten Stadt Wilmersdorf jede leise Bodenerhebung glattkratzen, auf daß ja die Straßen immer hübsch gerade und gleichmäßig werden und ein sezessionistischer Mietskasten aussehe wie der andere.
Anstatt dessen baute man hier in Heringsdorf in den Wald hinein und den Hügel hianuf und hinunter. So blieb dieser mondänste aller Vergnügungsorte eine holde Wildnis, und jede seiner Straßen ist wie ein dunkler Waldweg unter dem Laubdach, der in die Eisamkeit führt. Und überall streben die Buchen zwischen den Häusern auf und ertragen den Betrieb mit Geduld. Nicht einmal die vor dem Kabarett sind eingegangen, wie doch eigentlich hätte erwartet werden können.
Es ist dies der große alte Slawenwald. Von den russischen Jagdgründen, wo Bär und Wisent durch das Dickicht brechen, zieht er sich die schimmernde Küste entlang bis nach Dänemark und braust mit den großen Buchen im Winde. Knorrig, gewundene, moosbedeckte Buchen stehen sie da, unerschütterlich in allen Restaurationsgärten Heringsdorf. Einst sahen sie, wie die Heidenpriester des Gottes Swantewitt den Menschenopfern die Hälse durchschnitten. Jetzt sehen sie ebenso gelassen zu, wie die Oberkellner den Gästen die Hotelrechnungen präsentieren. Und wenn sie Französisch verstehen, werden sie die Kronen schütteln und sagen: Plus ça change, plus c’est la même chose.
Eine sehr merkwürdige Entdeckung, die bei vielen Heringsdorfern Aufsehen erregen wird, möchte ich hier noch mitteilen: die Entdeckung, daß Heringsdorf am Meere liegt.
Ich weiß wohl, daß dieser Behauptung viele gerade der ältesten Badegäste auf das lebhafteste widersprechen und erklären werden, daß sie in den langen Jahren ihres Kuraufenthaltes noch niemals irgend etwas vom Meer gesehen haben. Aber ich bleibe bei meiner Behauptung, ich habe das Meer ganz deutlich gesehen und möchte es den Kurgästen zur gefälligen Benutzung und Verwertung empfohlen haben.
In keinem Badeort der Welt wird dieses große Ding da draußen, die See, mit solcher Geringschätzung behandelt wie hier in diesem Heringsdorf. Man badet wohl, aber man badet nicht in der See, sondern vielmehr im Familienbad, wo man das Monokel und die falschen Haare anbehält und sich Witze erzählt. Am Strand sitzen nur wenige, die Zahl der Buden und Strandkörbe ist im Verhältnis zu der enormen Besucherzahl nur gering, und die harmlosen Scherze, die es sonst wohl überall gibt in den Bädern, das Burgenbauen und Muschelsuchen und so etwas, das ist hier im Vergleich zu anderen Ländern doch so ziemlich unbekannt.
Das Meer mit der Aussicht auf die fernen dämmernden Küsten ist in Heringsdorf herrlicher als irgendwo. Aber man muß sagen, daß dieses Meer, das so unmoderne Lieder singt, zu der fabelhaften Eleganz dieser Berliner Herrschaften nicht recht passen will. Man läßt es liegen und kümmert sich nicht viel darum. Ich glaube, es ist nicht todschick genug.
Victor Auburtin, Berliner Tageblatt 1911
Noch ein paar Anmerkungen zum Text. Zu Beginn ist von Danny Gürtler die Rede. Der selbst ernannte “König der Bohème”, war damals ein wegen seiner Abenteuer und Extravaganzen bekannter Kabarett- und Vortragskünstler. Plus ça change, plus c’est la même chose ist ein Zitat des französischen Journalisten und Schriftstellers Alphonse Karr und bedeutet so viel wie Je mehr sich die Dinge ändern, desto mehr bleiben sie die gleichen.
Aufmerksam geworden bin ich auf diesen begnadeten Feuilletonisten bereits vor einiger Zeit, als eine Passage in einem Text über Heringsdorf zitiert wurde. Den ganzen Text habe ich dann in dem kleinen Büchlein „Sand und Sachsen“ gefunden, 2000 im Verlag Das Arsenal erschienen, ISBN 3 931109 18 6. Eine sehr unterhaltsame Lektüre für den Strand oder den Kaffee auf der Promenade.
Es gibt noch kürzere Texte zu Misdroj, Swinemünde und Ahlbeck, die in den nächsten Wochen hier erscheinen werden.
Die beiden Bilder sind von Edward Cucuel, einem amerikanischen Maler, der 1907 als Illustrator in Berlin arbeitete. Das erste Bild (Auf der Brücke Heringsdorf) hat mir freundlicherweise Heinrich Karstaedt, 2. Vorsitzender der Historischen Gesellschaft zu Seebad Heringsdorf, überlassen. Einmal auf der Suche, habe ich das zweite Bild (Am Strand von Heringsdorf – gezeichnet nach dem Leben) in einem Antiquariat aufgetrieben. Beide Bilder gibt es in groß in Schmidt’s Bistro No.1 auf der Heringsdorfer Seebrücke zu sehen.